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  • Bruder

Seelsorge in der Gemeinde der Zeugen Jehovas



Von Tilo

Es ist manchmal gut, in Erinnerungen „spazieren zu gehen“. Bei so einem Spaziergang fiel mir kürzlich eine Mappe mit Briefen meines verstorbenen Freundes in die Hände. Beim Lesen wurde die Vergangenheit wieder lebendig – und auch der Schmerz.

Mein Freund ist aus Angst und aus Mangel an Liebe gestorben! Das ist nicht so ungewöhnlich, denn das widerfährt immer wieder empfindsamen Menschen, weil wir in einer hündischen Welt leben. Aber es ist besonders schmerzlich, wenn man denkt, dass es nicht hätte sein müssen.


Er berichtete in seinen Briefen von Zeit zu Zeit immer wieder von gefühllosen Angriffen auf seine menschliche Würde, beklagte die Oberflächlichkeit und die kumpelhafte, aber unehrliche Freundlichkeit der Ältesten. Auf große Worte folgten keine Taten! Das war 1991. Damals schon überlegte er, ob er nicht seine Koffer packen sollte. Zwei Jahre später geriet er in eine erneute Lebenskrise, die aus seiner psychischen Erkrankung kam: Er spürte die Vorzeichen eines Suizids. In seiner Not schrieb er an einen führenden Ältesten und bat um Hilfe. Auf eine Antwort wartete er vergebens. Der Brief wurde zwar in der Ältestenschaft herumgereicht, aber es blieb bei der Stille!


Dann schrieb er noch einen Brief, aber auch hier speiste man ihn mit einem herzlosen Schweigen ab! Es kam kein Besuch, kein Anruf, kein mitfühlendes Wort und keine menschliche Geste. Ein Jahr später nahm er sich in seiner Verzweiflung, durch entsetzliche Angst in die Ausweglosigkeit getrieben, das Leben. Die einzige mir bekannt gewordene Reaktion darauf war die Behauptung: „Der hat keine Auferstehung!“.

In seinem allerletzten Brief an mich stand: „Ob wir uns je wiedersehen, liegt in Gottes Ermessen. … Es hätte ein schönes Leben werden können.“


Mangel an Liebe

Diese Erfahrung macht auf ein allgemeines Poblem aufmerksam: Es ist ein großer Mangel an Liebe, Mitgefühl und Barmherzigkeit, der mithilft, dass sich Menschen das Leben nehmen. Was ist los in den Versammlungen der Zeugen Jehovas? Mein verstorbener Freund schrieb dazu:

„Natürlich wirst du sagen, ich soll nicht soviel auf Menschen schauen, aber ich kann ohne die Liebe meiner Brüder nicht leben und ich kann nicht akzeptieren, dass nur Brüder anerkannt werden, die eine große Zahl von Predigtdienststunden aufweisen können. Das scheint mir nämlich der Modus der Bewertung bei unserem Herrn Oberstatistiker zu sein. … Wir sind ja auch seelisch für einander verantwortlich und benötigen Mitgefühl.“

Damit hat er schon das Grundübel beim Namen genannt! Ich will hier nicht den teilnahmslos zusehenden Ältesten die Schuld am Suizid geben! Man kann an einem Herzinfarkt sterben, aber auch an einer Depression. Und manche Psychosen enden einfach im Tod. Wenn Depressionen ein Schmerzreiz der Seele sind, weil das Leben nicht mehr stimmt, dann wäre zu fragen, wie viel es braucht, bis ein Mensch zerbrochen ist und er sich das Leben nimmt.


Am Anfang dieses mit 50 Jahren beendeten Lebens stand eine furchtbare Angsterfahrung des Kindes, die eine dauerhafte Wunde blieb, die nicht heilte, sondern durch „Erziehung“ und später durch lieblose Behandlung immer wieder aufgerissen worden ist. So ähnlich geht es vielen. Das Leben überfordert sie und wenn dann niemand da ist, der sich dem Leidenden menschlich zuneigt, dann ist es schlimm und der Depressive findet aus seinem Teufelskreis nicht heraus. Und am Ende haben viele Menschen daran mitgewirkt, dass hier ein armer Mensch am Leben scheitern musste. Jeder hat seine Kleinigkeit dazu getan, bis die Last nicht mehr zu tragen war.


Nun ist das ja in der Welt zu oft grausige Wirklichkeit. In den Kirchen gibt es amtlich bestellte Seelsorger, die den Verzweifelten helfen sollen. Aber wie soll es in einer christlichen Gemeinschaft sein? In der Christenversammlung hat jeder die Aufgabe, in dieser Hinsicht tätig zu sein! „Redet bekümmerten Seelen tröstend zu!“ (1. Thes. 5:14) Wir tragen also füreinander Verantwortung. so das es nicht so leicht passieren kann das ein Bruder an seinem Leben verzweifelt!


Die spezielle Situation bei den Zeugen Jehovas

Die Zeugen Jehovas zitieren gegenüber Außenstehenden gern die Worte Jesu:


„Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe unter euch habt.“ (Joh. 13:35)

Und dann sagen sie, dass es diese „wahre“ Liebe bei ihnen gibt. Sie behaupten, dass es Seelsorge bei ihnen gibt: “Jede Gemeinde oder Versammlung wird von einer Gruppe Ältester seelsorgerisch betreut.” Ob sie dabei den Mund nicht zu voll nehmen? Sie machen der Öffentlichkeit auch klar, dass sie Liebe zu allen Menschen haben, weil sie ihnen ja predigen.


Es stimmt auch, dass zu Beginn der 90er Jahre in einem Brief des Zweigbüros in Deutschland die Ältesten gebeten wurden, auf Menschen mit Suizidzeichen zu achten, aber wie oft kam das vor? Der WTG ist dieses Problem gut bekannt, denn es wird immer wieder einmal thematisiert. Aber man kann Liebe nicht verordnen wie ein Medikament! Sie ist eine Frucht des Geistes Jehowahs und nicht die einer menschlichen Organisation!

Das Problem ist dem ganzen System eigen, denn es ist auf Effizienz angelegt, auf „Erfolg im Predigtdienst“, auf „vollen Einsatz“ in der Firma WTG, auf Fortschritt und noch mal Fortschritt für die Organisation! Bis heute erlebe ich, wie in den Versammlungen die Liebe erfriert. Erstaunlich, dass es derselbe Trend ist wie in der ganzen Welt. Erste Opfer dieser Eiszeit werden auch in der Zukunft die Gefährdeten sein, die ohnehin am Rand stehen und sich verlassen fühlen. Wie viel fehlt ihnen noch, um zu fallen?


Warum?

Ich frage heute noch, warum es so viele Unerquickte, so viele psychisch Kranke, soviel Mutlosigkeit und soviel stures und freudloses Durchhalten gibt? Warum sind so viele von Psychopharmaka abhängig? Warum ist das Feuer des Geistes häufig erloschen? Warum blüht die Liebe so selten auf? Warum fühlt man sich nicht mehr so richtig wohl? Warum ziehen sich immer mehr von den Versammlungen zurück?

Das tun sie doch nicht, weil sie den Glauben an Gott und Christus verloren haben, sondern weil sie frieren und das Gefühl haben, seelisch zu verhungern! Das Wegbleiben ist ein Symptom für die geistige Windstille, für den Organisationskult, der wenig menschliche Wärme zulässt. In diesem Zusammenhang ist ein durchschnittlicher Ältester schlicht überfordert, wenn man von ihm erwartet, dass er für einen depressiven Menschen aktiv werden soll.


Es fehlt an vielen Stellen: Kaum jemand nimmt sich die Zeit, zuzuhören, ohne Vorwürfe zu machen oder fertige Rezepte zu verteilen nach dem Motto „Sei geistig gesinnt! Studiere mehr! Bete mehr! Predige mehr!“ Es fehlt oft genug auch an Empathie und an Herzen, die Augen haben und einen Blick für die Leidenden haben. Ich muss betonen, dass nicht alle Ältesten so oberflächlich sind. Aber es sind zu viele so, weil sie den Vorschriften und Vorgaben einer Organisation gehorchen, die wirtschaftliche Effizienz und Erfolg will.


Seelsorge unter den Zeugen Jehovas

Das Thema Seelsorge ist rasch zusammengefasst: In den einzelnen Gruppen, denen ein Ältester vorsteht, wird der Predigtdienst organisiert. Es finden von Zeit zu Zeit „gesellige“ Zusammentreffen im privaten Rahmen statt, bei denen die Bibel gelesen wird. Es sind eher „Kameradschaftsabende“, die nahezu folgenlos ablaufen. Menschliche Nähe ist eher selten festzustellen.


Daneben gibt es noch die „Hirtenbesuche“, die von einem Ältesten „vorbereitet“ werden, indem er sich die Schwächen eines Bruder oder einer Schwester im Predigtdienst und im Versammlungsgeschehen aussucht. Darüber doziert er gewöhnlich, nachdem ein einleitendes Lob ausgesprochen worden ist. Er macht dann Vorschläge, wie man sich im Predigtdienst verbessern könnte, wie man bessere Kommentare geben könnte usw. Und dann geht man wieder. Um das Ganze praktisch abzurunden trifft der Älteste dann eine Verabredung zum Predigtdienst oder bietet ein „Buchstudium“ an. Hier wird ein Büchlein der WTG „studiert“, d. h. der Betreffende wird noch einmal, wie vor Beginn seiner Mitgliedschaft indoktriniert, in der Hoffnung, dass er ein besserer Verkündiger wird.


Was ich hier geschildert habe, ist kein Sonderfall, sondern die Normalität, wenn auch nicht in allen Versammlungen der Zeugen Jehovas. Auch wenn es einzelne Älteste gibt, die sich ihrer Geschwister wirklich und herzlich annehmen, bleibt ein Riesendefizit! Ich habe es eher selten erlebt, dass bei wirklichen Problemen des Lebens geholfen worden ist, indem man menschliche Nähe bewies, Wärme, Mitgefühl und Barmherzigkeit zeigte.


Was ich immer wieder sah, war das Anlegen einer Liste für Hirtenbesuche! Aber immer wieder stellte es sich heraus, dass sie nicht „abgearbeitet“ wurde. So stehen die Betroffenen mit den wahren Problemen des Lebens gewöhnlich allein in der Kälte und frieren. Da geht es ihnen wie dem überfallenen Mann aus dem Gleichnis Jesu: Der Priester und der Levit gingen sehenden Augen auf der anderen Straßenseite vorüber.


Die Voraussetzungen für gute Hirtenarbeit oder Seelsorge

Man kann einem Menschen nur dann wirklich helfen, wenn man ihn liebt! Dazu gehört es, ihn als einzelnen und besonderen Menschen willkommen zu heißen. Dazu gehören Liebe, Freundschaft, Mitgefühl (Empathie) und das Zulassen von menschlicher Nähe. Es gehört auch die Einsicht dazu, dass wir alle füreinander verantwortlich sind! Diese Verantwortung wird uns niemals abgenommen! Aber statt für Menschen fühlt man sich tatsächlich eher für die Organisation verantwortlich und dafür, dass in ihr alles gut funktioniert!


So kann die Verantwortung für den einzelnen wertvollen Menschen auf ein Götzenbild übertragen werden. Dieses Götzenbild duldet „keine anderen Götter neben sich“. Die Menschen in der Organisation dienen als Mittel zum Zweck. Und wo eine christliche Gemeinschaft den Einzelnen zum Erwachsenen heranbilden sollte (Eph. 4:14; Hebr. 5:14), wird das geistige Erwachsenwerden, das in einer gesunden Ich-Stärke besteht, mit großem Misstrauen betrachtet.


Und die Folgen haben wir vor uns: Geistig unmündige Menschen, die in Abhängigkeit zur Organisation gehalten werden. Es wird ihnen eingetrichtert, dass sie nicht ohne die Organisation sinnvoll leben können! Man behauptet, dass sie nur in der Organisation gerettet werden können! Sie sollen blind und taub der Führung durch die Organisation folgen! Das ist Götzendienst, und Götzendienst ist ein Verbrechen am Menschen!


Und es ist uns klar, dass nur wahrhaftige Christen in der Lage sind, Menschen in seelischer Not beizustehen. Denn die Voraussetzungen für ein gutes und liebevolles Klima unter christlichen Geschwistern werden durch den heiligen Geist geweckt und gefördert. Erst wenn das Feuer des Geistes Gottes im Herzen brennt, entsteht Seelsorge.

Wenn das so ist, dann sollte es in einer Versammlung von Christen nicht zu einer geistigen Eiszeit kommen, denn die Wirkung des heiligen Geistes kann nicht ausbleiben, wenn man sie zulässt. Lässt man sie aber nicht zu, weil ein „theokratisches Gesetz“ den Geist aussperrt und das Wohl der Organisation ganz oben steht, dann kann man nur noch erfrieren – oder gehen. Denn in so einer Eiszeit gedeihen nur noch „Eisblumen“ wie Heuchelei, Misstrauen, Doppelmoral, Konkurrenzgeist, Funktionärswesen, Druck und Lieblosigkeit. Dann wachsen auch Psychosen gut und psychosomatische Krankheiten auch.

Es kann nicht im Sinne Jesu sein, dass in einer Gemeinschaft einige sich ‚wie die Axt im Wald’ verhalten und andere sich dann um die Schäden kümmern, die aus Mangel an Respekt und durch Lieblosigkeit entstanden sind. Es kann nicht Jesu Absicht sein, dass Menschen zu „Randfiguren“ abgestempelt werden, weil sie nicht in das Bild passen, das die Organisation von einem „eifrigen Zeugen Jehovas“ malt. Es kann nicht sein, dass sie vollends hinausgedrängt werden und wie verlorene Schafe werden.

Der Mensch und erst recht der Christ möchte um seiner selbst willen respektiert und geliebt werden! Erst das ist Bruderschaft, wenn man sich gegenseitig Mut macht, liebt und Barmherzigkeit pflegt! Bruderschaft bedeutet, dass man sich gegenseitig willkommen heißt und annimmt! Das sind alles Wirkungen des heiligen Geistes. Aber dafür bietet die Organisation wenig Raum. In ihr wird man geliebt, wenn man ein „vorbildlicher Verkündiger“ ist.

Bist du etwas anderes, dann hast du Pech gehabt! Dann kannst du sehen, wie du zurecht kommst. Um „Randfiguren“ braucht man sich wohl nicht zu kümmern. (Der Begriff stammt aus dem Brief eines Kreisaufsehers an das Zweigbüro und er wurde in der Antwort an ihn nicht korrigiert, sondern noch verstärkt!). Und es gibt ja viele „Randfiguren“, wenn ich an die Schwachen, Alten, Vereinsamten und Kranken denke, die man in der Regel mit ihren Sorgen allzu oft allein lässt.

Wie anders ist die Aussage der Bibel!

Ich möchte den Gegensatz zwischen dem Betrieb der WTG und dem Christentum verdeutlichen. Dazu braucht man nur zwei Bibelstellen:

„Denkt nicht höher von euch, als es angemessen ist, und seid besonnen! … Genauso sind wir alle in Verbindung mit Christus ein Leib und einzeln genommen Glieder, die voneinander abhängig sind. …

Wenn jemand die Gabe der Seelsorge (oder: Gabe der Ermutigung) hat, dann soll er sie ausüben. …

Liebe muss echt sein, ohne Heuchelei! Verabscheut das Böse, haltet am Guten fest. Seid einander in herzlicher geschwisterlicher Liebe zugetan. Übertrefft euch in gegenseitigem Respekt! Werdet im Fleiß nicht nachlässig, lasst den Geist in euch brennen und dienst so dem Herrn! Freut euch, weil ihr Hoffnung habt, bleibt standhaft in Bedrängnis, seid treu im Gebet!

Nehmt Anteil an den Nöten der Gläubigen und helft ihnen. Bemüht euch um Gastfreundschaft! Segnet eure Verfolger, wünscht ihnen Gutes und verflucht sie nicht! Freut euch mit denen, die sich freuen; weint mit denen, die weinen! Seid miteinander auf das gleiche Ziel bedacht! Strebt nicht hoch hinaus, sondern lasst euch auch von geringen Dingen in Anspruch nehmen! Haltet euch nicht selbst für klug! …

Vergeltet niemand Böses mit Bösem! … Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse mit dem Guten!“

(aus Römer 12)

„Gilt bei euch so etwas wie eine Ermutigung, Christus zu folgen? Gilt ein tröstender Zuspruch, der aus der Liebe kommt, eine Gemeinschaft durch den heiligen Geist, ein herzliches Erbarmen? Dann macht doch meine Freude vollkommen, indem ihr in derselben Einstellung und Liebe von ganzem Herzen zusammensteht und nichts aus Streitsucht oder Ehrgeiz tut!

Seid vielmehr bescheiden und achtet andere höher als euch selbst! Denkt nicht nur an euer eigenes Wohl, sondern auch an das der anderen. Eure Einstellung soll der von Christus gleichen.“ (Phil. 2:1-5)

Und mehr wäre nicht zu sagen. Das ist so klar und eingängig, dass man nicht darüber diskutieren muss. Wir sind als Menschen dazu geschaffen, genauso zu handeln! Und nur das entspricht der Absicht Jehowahs. Um das zur Tat werden zu lassen, braucht man keine psychologische Ausbildung zum Seelsorger. Man braucht nur Augen, Augen des Herzens, die wirklich sehen können und dann den Geist Gottes, um zu handeln. Und daran kann es einem Christen eigentlich nicht fehlen!


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